6. Türchen
Der verletzte Nikolaus
„Und der Nikolaus kommt ganz bestimmt?“, fragt Max und gähnt. Onkel Thomas nickt. „Ganz bestimmt“, antwortet er. „Und woher weiß er, dass ich heute Nacht bei dir und nicht zu Hause schlafe?“, fragt Max. „Der Nikolaus weiß immer alles über Kinder!“, beruhigt Onkel Thomas seinen Neffen. Doch der Gedanke, dass der Nikolaus tatsächlich immer alles von Kindern weiß, beruhigt Max keineswegs. Im Gegenteil. Er denkt sofort an den schönen, bunten Glasfisch. Bis vor einer Stunde stand er bei Onkel Thomas auf der Badewanne. Max wollte ihn vorhin nur anschauen. Dazu musste er ihn natürlich in die Hand nehmen … und dann war ihm der Fisch aus der Hand geglitten und auf die Kacheln gefallen. Die Scherben hat Max sorgfältig unter die Badematte gefegt – damit Onkel Thomas sich nachher beim Zähneputzen keine Scherben in die Füße tritt.
Na ja, ein kleines bisschen vielleicht auch, damit Onkel Thomas nicht schimpft, weil der Fisch kaputt ist. „Vielleicht ist es doch nicht so schlimm, wenn der Nikolaus nicht hierher kommt, sondern nach Hause“, rutscht es Max heraus. Denn, wenn der Nikolaus alles über Kinder weiß, dann weiß er das mit dem Fisch natürlich auch.
„Wieso das denn?“, fragt Onkel Thomas überrascht. Max wird rot und zuckt mit den Schultern. „Ach, weil es auch ohne Nikolaus immer so schön bei dir ist“, sagt er schnell. „Das freut mich.“ Onkel Thomas lächelt und nimmt seinen Neffen in den Arm. „Bist du denn gar nicht müde?“ fragt er und sieht auf die Uhr. Es ist schon halb zehn. Max schüttelt den Kopf. „Ich kann doch nicht ins Bett gehen, wenn der Nikolaus vielleicht doch noch kommt…!“
Das sieht Onkel Thomas ein. „Komm, dann erzähle ich dir eine Geschichte, während wir warten“, schlägt Onkel Thomas vor. „Ah ja! Eine Geschichte von Sindbad dem Seefahrer!“, bittet Max. Die Abenteuer vom mutigen Sindbad sind seit einiger Zeit Max‘s Lieblingsgeschichten und keiner kann sie so gut erzählen wie Onkel Thomas – nicht einmal Mama. „Na gut“, sagt sein Onkel. Er macht das Licht aus. Sie zünden ein paar Kerzen an und kuscheln sich zusammen unter eine warme Wolldecke. Dann gießt Onkel Thomas sich noch einen Schluck Tee ein und räuspert sich. „Es war einmal, da lebte im fernen Orient ein Mann, den nannten alle Sindbad den Seefahrer…“ Plumps! Max schlägt die Augen auf.
Er ist vom Sofa gefallen. Das Ende der Geschichte hat er gar nicht mehr gehört, weil er eingeschlafen ist. Jetzt sind die Kerzen auf dem Tisch schon fast runter gebrannt und der Tee in den Tassen ist mittlerweile eiskalt. Onkel Thomas schläft auch. Er liegt auf dem Sofa und schnorchelt leise vor sich hin. Chiah püh! Chiah püh…, macht er. Max grinst. Onkel Thomas bestreitet immer ganz energisch, dass er schnarcht. Max stört das nicht. Im Gegenteil, er hört seinen Onkel gerne schnarchen. Das hat so etwas Beruhigendes, fast wie das Schnurren einer Katze, findet er. Dann fällt ihm ein, wieso sie so lange aufbleiben wollten, und er läuft schnell raus in den Flur um nachzuschauen, ob der Nikolaus schon etwas in ihre Stiefel gefüllt hat. Onkel Thomas´s große Stiefel sehen neben Max´s kleinen noch viel größer aus. Da in Onkel Thomas Stiefel so viel mehr reinpasst, hat er für diesen einen Abend mit seinem Neffen die Stiefel getauscht. Das ist richtig nett von ihm, findet Max und er freut sich schon darauf, wenn seine eigenen Füße irgendwann mal so groß sind wie die von Onkel Thomas. Die beiden Stiefelpaare sind noch leer. Der Nikolaus war also noch nicht da. Max will sich gerade wieder zu seinem Onkel auf die Couch kuscheln, als er ein Geräusch hört. Es kommt aus dem Badezimmer. Was kann das sein? Ob er Onkel Thomas wecken soll? Doch dann denkt Max an den tapferen Sindbad, der die haarsträubenden Abenteuer ganz alleine bestanden hat, und er fühlt sich plötzlich auch ziemlich mutig. Ich kann ja erst mal nachschauen, denkt Max und schleicht vorsichtig aus dem Wohnzimmer. Die Badezimmertür ist nur angelehnt und ein schmaler Lichtkegel fällt in den dunklen Flur. „Oh, verflucht! Es blutet!“, murmelt da eine Stimme leise. Max bleibt wie angewurzelt stehen und hält vor Schreck den Atem an. Da ist wirklich jemand im Badezimmer. Wer kann das sein? Ein Gespenst? Ein Nachtmonster? Oder etwa ein Einbrecher? Mit solchen Eindringlingen wäre vielleicht Sindbad alleine fertig geworden – aber nicht ein kleiner Junge wie Max. Ganz leise, ganz langsam und ganz vorsichtig geht Max rückwärts. Jetzt will er doch lieber Onkel Thomas wecken. Doch ehe Max das Wohnzimmer wieder erreicht, wird die Badezimmertür aufgestoßen. Max bleibt wie angewurzelt stehen. Sein Herz klopft so schnell, wie Max jetzt gerne rennen würde. Aber er kann nicht. Seine Füße sind wie festgeklebt. Ängstlich starrt Max zur Badezimmertür. Ein riesiger schwarzer Schatten fällt in den Flur.
In der offenen Badezimmertür steht ein großer, dicker Mann. Er trägt einen roten Mantel, dicke rote Wollhosen und auf dem Kopf hat er eine rote Zipfelmütze mit Pelzbesatz und einem weißen Pelzbommel. Stiefel hat er keine an. Socken auch nicht. Das heißt doch, eine grüne Wollsocke, auf die lauter kleine, dicke, nackte Engelchen mit silbernen Flügelchen gestickt sind, hat er an. Die andere Socke hält er in der Hand. Seinen nackten Fuß setzt er nur ganz vorsichtig mit den Zehenspitzen ein wenig auf, denn aus der Ferse ragt die Schwanzflosse von Onkel Thomas schönem, buntem Glasfisch. Max fallen ganze Felsbrocken der Erleichterung vom Herzen, als er erkennt, wer da vor ihm steht: Es ist der Nikolaus. „Hallo Max“, grollt der Nikolaus und deutet auf seinen nackten Fuß, „ich habe mir eine Scherbe in den Fuß getreten.“ Max schluckt. Er weiß ja, was für eine Scherbe da in der Ferse vom Nikolaus steckt. Und er weiß auch, wer die Scherben unter die Badematte geschoben hat. Max senkt den Kopf. „Der Fisch ist mir vorhin runtergefallen“, murmelt er schuldbewusst. Bestimmt wird der Nikolaus gleich ganz fürchterlich schimpfen. Doch anstelle eines Donnerwetters sagt der Nikolaus: „Ich weiß. Ich hätte dran denken müssen, hast du ein Pflaster für mich?“ Max nicht. Er weiß wo Onkel Thomas das Pflaster aufbewahrt. In der bunten Pappschachtel im Bad. Der Nikolaus geht zurück ins Badezimmer. Der große Sack mit den Geschenken steht noch unter dem offenen Badezimmerfenster. Es ist kalt im Bad. Der Nikolaus schließt das Fenster, setzt sich auf die Badewanne und haucht sich auf die rot gefrorenen Finger. „Meine Hände sind so kalt und klamm, dass ich mir nicht einmal diese verflixte Scherbe alleine aus der Ferse ziehen kann“, seufzt er. Max nimmt die Schachtel mit dem Verbandszeug aus dem Schränkchen unter dem Waschbecken, hockt sich vor den Nikolaus auf den Boden und schneidet ein großes Pflaster ab. „Danke“, sagt der Nikolaus. „Könntest du vielleicht…?“ Er deutet fragend auf den großen Glassplitter in seiner Ferse.
Max hat so etwas noch nie gemacht. Wenn er einen Splitter im Fuß oder im Finger hat, ziehen Mama oder Papa ihm den immer raus. Der Nikolaus streckt Max seinen Fuß entgegen. ,,Ich kann’s ja mal versuchen“, sagt Max zögernd. Er fasst den gläsernen Fischschwanz fest mit zwei Fingern, schließt die Augen und zieht. „Aua!“, knurrt der Nikolaus, aber da hat Max die Scherbe auch schon in der Hand. „Vielen Dank!“, sagt der Nikolaus und lächelt Max. „Das hast du prima gemacht.“ Max lächelt stolz zurück. Trotzdem hat er ein schlechtes Gewissen. Wenn ihm der schöne, bunte Glasfisch nicht heruntergefallen wäre und wenn er die Scherben anschließend nicht unter die Badematte geschoben hätte, dann wäre der Nikolaus auch nicht reingetreten … Aber wie hätte Max auch ahnen können, dass der Nikolaus ausgerechnet durch das Badezimmerfenster einsteigen würde? In den Weihnachtsgeschichten kommt er immer durch den Kamin.
„Warum bist du eigentlich nicht durch den Kamin gekommen?“, fragt Max. „Durch welchen Kamin?“, fragt der Nikolaus zurück. „Wo gibt es heutzutage noch einen richtigen, ordentlichen Kamin? Ach, war das früher einfach, als jede Wohnung, jedes Haus noch einen offenen Kamin hatte! Aber heutzutage haben ja alle Zentralheizung. Da muss man eben sehen, wie man reinkommt.“ Er seufzt wieder. „Heute geht sowieso alles schief. Erst das mit meinen Stiefeln und jetzt trete ich mir auch noch diese Scherbe in den Fuß.“ „Was ist denn mit deinen Stiefeln?“, fragt Max und schaut sich suchend im Badezimmer um. „Die habe ich verloren“, sagt der Nikolaus. „Verloren?“, wiederholt Max ungläubig. Er hat ja auch schon einiges verloren, Handschuhe, Mützen, Murmeln … einmal sogar die Brille. Aber die Stiefel? „Ich habe eine Abkürzung genommen“, sagt der Nikolaus verlegen, „über eine Baustelle. Leider war es sehr dunkel und ich habe nicht gesehen, dass die Auffahrt frisch betoniert war. In dem frischen Beton bin ich mit meinen Stiefeln stecken geblieben. Die einzige Möglichkeit, da wieder wegzukommen, war die Stiefel auszuziehen. Jetzt stecken sie immer noch fest und ich bin auf Socken weitergegangen – zum Glück regnet es nicht.“ „Oje“, sagt Max mitfühlend. „Das war doch bestimmt eiskalt.“ Der Nikolaus nickt. „Ein warmes Fußbad könnte ich jetzt schon vertragen.“
Er krempelt die Wollhosen hoch, zieht auch die zweite Engelssocke aus und lässt sich warmes Wasser in die Badewanne. „Ah, das tut gut!“, sagt er, als er die Füße in das warme Wasser steckt. „Ich könnte dir ja meine Stiefel leihen“, schlägt Max vor. Der Nikolaus lächelt bedauernd. „Das ist nett, aber die passen mir bestimmt nicht. Schade.“ Max schaut auf die Füße vom Nikolaus und dann auf seine eigenen. Das ist ein Unterschied wie zwischen David und Goliath. Max kennt nur noch einen Menschen, der so große Füße hat: Onkel Thomas. Und der schläft …“Soll ich Onkel Thomas wecken?“, fragt Max. „Der leiht dir seine Stiefel bestimmt.“ „Das geht leider auch nicht“, sagt der Nikolaus und plätschert mit den Füßen im warmen Wasser.
„Es gibt da nämlich zwei goldene Regeln, an die ich mich unbedingt halten muss: 1. Ich darf niemanden wecken um seine Hilfe zu erbitten. 2. Ich darf mir nur das nehmen, was mir freiwillig angeboten wird. Das heißt, ich kann mir nicht einfach irgendwo ein Paar Stiefel wegnehmen. Selbst wenn ich sie morgens wieder zurückbringe. Außerdem, stell dir die Schlagzeilen vor: Nikolaus klaut Stiefel! – Ich muss ja auch auf meinen guten Ruf achten.“ Er schüttelt nachdenklich den Kopf. „Die einzige Möglichkeit wäre, wenn mir jemand seine Stiefel anbieten würde – so wie du eben. Jemand mit größeren Füßen.“ „Hmm“, macht Max und überlegt. Und dann fällt ihm tatsächlich ein, wie er dem Nikolaus helfen kann. „Ich habe ein Paar Stiefel, die dir passen!“, ruft er. „Wirklich?“, fragt der Nikolaus überrascht. Max nickt und läuft in den Flur. Er holt Onkel Thomas Stiefel.“Hier, bitte“, sagt er und stellt sie vor die Badewanne. „Das sind deine Stiefel?“, fragt der Nikolaus ungläubig und hebt einen Stiefel hoch. Max nickt. „Für heute Abend. Ab morgen gehören sie wieder Onkel Thomas. Wir haben für eine Nacht getauscht“, erklärt er, „weil in Onkel Thomas Stiefel mehr reingeht. “ Da strahlt der ‚Nikolaus plötzlich. Er trocknet sich die Füße ab, zieht schnell seine grünen Engelssocken wieder an und schlüpft in die Stiefel. Sie passen wie angegossen. „Vielen Dank, Max!“, sagt der Nikolaus. „Du hast mir aus einer sehr misslichen Lage geholfen. Vielleicht kann ich mich ja mal revanchieren. Jetzt muss ich weiter. Morgen früh stehen die Stiefel wieder vor der Tür. Das ist versprochen. Tschüss, Max.“
Der Nikolaus öffnet das Badezimmerfenster, schultert seinen schweren Sack und klettert so behände wie ein Äffchen aus dem Fenster und an der Regenrinne nach unten. Dann winkt er noch einmal hoch und biegt fröhlich pfeifend um die nächste Ecke. „Tschüss, Nikolaus!“, ruft Max ihm leise hinterher. Er ist stolz wie Oskar, dass er dem Nikolaus helfen konnte. Dann schließt er das Badfenster wieder, kehrt die Scherben zusammen und wirft sie in den Abfalleimer. Nicht, dass noch jemand sich eine Scherbe in den Fuß tritt. Jetzt ist er aber ordentlich müde! Gähnend kuschelt Max sich wieder an Onkel Thomas. Der grunzt zwar ein bisschen, wacht aber nicht auf. Dafür ist er am nächsten Morgen vor Max wach. „Aufwachen!“, ruft Onkel Thomas und rüttelt seinen Neffen an der Schulter. „Wir müssen doch nachschauen, ob der Nikolaus da war, während wir geschlafen haben!“
„Weiß ich doch schon“, murmelt Max verschlafen, aber das hört Onkel Thomas nicht mehr, denn er ist schon raus in den Flur gelaufen. Max, komm schnell!“, ruft er aufgeregt. Max schält sich aus der kuscheligen Wolldecke. Onkel Thomas´s Stiefel stehen so gut geputzt und trocken auf der Fußmatte, als hätten sie sich die ganze Nacht nicht von dort wegbewegt. Die beiden holen ihre Stiefel ins Wohnzimmer und schütten den Inhalt der Stiefel auf den Teppich. Da purzeln Nüsse, Orangen, Äpfel, Mandarinen und Lebkuchen heraus und für jeden einen großen Schokoladen- Nikolaus und in Onkel Thomas´s Stiefeln steckt noch ein Päckchen. Das ist für Max. Er reißt es aufgeregt auf. Es ist ein großer bunter Glasfisch drin. „Oh, ist der schön!“, sagt Onkel Thomas. „Genau wie meiner. Ich hol ihn mal.“
Max schluckt. „Onkel Thomas!“, ruft er, ich muss dir etwas sagen …“ „Gleich!“, ruft Onkel Thomas aus dem Bad. Max geht mit seinem Fisch in der Hand hinterher. Im Bad bleibt er überrascht stehen. Auf der Badewanne steht der Glasfisch, der ihm gestern runtergefallen war. Und er hat nicht einmal einen Sprung. Max schaut ungläubig im Abfalleimer nach, die Scherben sind verschwunden. „Was wolltest du mir sagen?“, fragt Onkel Thomas. „Ach nur, dass es doch gut ist, dass der Nikolaus immer weiß, wo ich gerade bin!“, sagt er. „Machen wir Pfannkuchen zum Frühstück?“ „Gute Idee!“, findet Onkel Thomas und lächelt seinen Neffen an.